Mit „Karolina“ und „Bernhard“ auf Zeitreise in die Vergangenheit

Mit „Karolina“ und „Bernhard“ auf Zeitreise in die Vergangenheit

Birstein / Main-Kinzig (MKK/jkm). Die junge Karolina zeigt sich in ihrer Festtagstracht: dunkler Rock und dunkles Oberteil, die weizenblonden Haare akkurat geflochten. So ist sie bereit, zur Hochzeit zu gehen. Nachdem sie jahrelang allein war, ist sie nun in Begleitung eines ebenso adrett gekleideten jungen Mannes. Diese Zweisamkeit hat Karolina der Hartnäckigkeit einer Frau zu verdanken, die sich seit zehn Jahren dafür eingesetzt hat, dass ihre Karolina von vielen Menschen gesehen wird: Gudrun Kneip aus Birstein-Unterreichenbach. Karolina war in ihrem früheren Leben eine Schaufensterpuppe. Nun führt sie vor, was Frauen im 19. Jahrhundert in der Vogelsberg-Region rund um Birstein getragen haben. Hierfür hat Gudrun Kneip sich auf intensive Spurensuche begeben: „Trachten gab es hier nicht, bekam ich immer wieder zu hören“, erinnerte sich Gudrun Kneip. Das spornte sie an, genauer nachzuforschen und sie wurde fündig. Das Ergebnis ist jetzt in Birstein zu sehen.

Der Main-Kinzig-Kreis und die Gemeinde Birstein haben das Herzensprojekt der 81-Jährigen unterstützt, so dass Schneiderin Christina Schneider den Auftrag erhielt, eine Männertracht zu nähen – nach einer Zeichnung von Rudolf Koch aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Auch die Gemeinnützige Gesellschaft für Arbeit, Qualifizierung und Ausbildung (AQA), die als kreiseigener Bildungsträger im Auftrag des Kommunalen Centers für Arbeit (KCA) Menschen fit für den Weg in ein selbstbestimmtes Arbeitsleben macht, hat an dem Projekt mitgewirkt. Die drei Auszubildenden im Tischlerhandwerk – Eid Almustafa, Maximilian Schlögel und Sebastian Althaus – haben unter der Regie von Fachanleiter Jochen Link eine Vitrine aus Glas und Eichenholz gefertigt und gemeinsam mit AQA-Geschäftsführer Hans-Jürgen Scherer überbracht. In diesem Schaukasten haben Karolina und Bernhard, wie ihr neuer Gefährte heißt, nun im Eingangsbereich des Birsteiner Bürgerzentrums ein dauerhaftes Zuhause gefunden – zur großen Freude der heimatgeschichtlichen Autorin, die seit zehn Jahren ein großes Interesse an einer Dauerausstellung hat.

„Das Ergebnis langjähriger und intensiver Bemühungen kann sich sehen lassen und auch der Ort ist bestens gewählt: Im Bürgerzentrum werden die beiden Trachtenfiguren von den Besuchern gesehen und erzählen durch ihre Kleidung von einer Zeit, die schon längst vergangen ist. Die Beschäftigung mit der Frage, was die Menschen in früheren Zeiten einmal getragen haben, ist eine spannende Sache und verrät uns viel über die kulturhistorischen Hintergründe und dem Alltagsleben unserer Heimat in früheren Jahrhunderten“, erklärte Landrat Thorsten Stolz anlässlich der Übergabe der Vitrine. Er dankte Gudrun Kneip für ihre umfangreichen Bemühungen und Nachforschungen.

Birsteins Bürgermeister Fabian Fehl hat das Projekt von seinem Amtsvorgänger Wolfgang Gottlieb übernommen. Er würdigte die Bemühungen von Gudrun Kneip, die mit ihren Nachforschungen zum Thema Trachten einen wunderbaren Beitrag zur Erforschung von regionaler Geschichte und Identität leiste.

Karolina trägt die Tracht einer wohlhabenden Vogelsbergerin aus Herbstein, wie sie um 1880 üblich war. Ihre Festtracht ist authentisch. Denn Gudrun Kneip erhielt die Teile, nachdem sie Kontakt zum Privatmuseum in Herbstein aufgenommen hatte. „Karolina“ trägt Kleidung, die aus der Familie von Karolina Ruhl stammte. Die Stoffe sind schwer, verarbeitet wurden Leinen und Seide in dunklen Farben: schwarz, blau und violett. Die Tuchjacke ist mit Bändern und Perl-Stickarbeiten verziert, im Ausschnitt trägt Karolina ein schwarzes Wolltuch. Als Kopfschmuck dient ihr eine Bänderhaube aus Satin, die mit Perlen geschmückt ist. Damit der aus schwerem Stoff bestehende Rock nicht so oft gewaschen werden musste, wurde eine sogenannte „Besenborte“ an den Saum genäht, die bei Bedarf abgenommen und gereinigt werden konnte. 

„Bernhard“ verkörpert einen protestantischen „Burschen“ und zeigt, wie diese um 1890 gekleidet waren. Sie trugen im Winter eine lederne Kniebundhose aus Schaffell, mit der Wollseite nach innen. Im Sommer trugen sie eine weiße Leinen-Kniebundhose, passend dazu ein weißes Leinenhemd, dessen Kragen mit einem schwarzen Kragenband verziert war, was mit einer Fliege vergleichbar ist. Hinzu kamen eine schwarze Weste und ein Gehrock aus schwarzem Wollstoff. Dieser wurde offen getragen und mit einer Spange zusammengehalten. An den Unterschenkeln trugen die Männer weiße Wollstrümpfe, am Kniebund mit Schleifchen gehalten. Dazu Spangenschuhe und auf dem Kopf eine Mütze. Diese war aus Schafleder gefertigt mit einem Bund aus Schaffell. Als Verzierung waren Lederbänder angebracht, die oben zusammengebunden wurden. 

Wie Gudrun Kneip erklärte, reichen die Ursprünge der Trachten ins 16. Jahrhundert zurück. Bereits im Mittelalter gab die Art der Kleidung Auskunft darüber, aus welcher Gesellschaftsschicht ein Mensch stammte. „Die hier gezeigten historischen Trachten haben allerdings wenig gemeinsam mit einem Wiesn-Dirndl“, betonte Gudrun Kneip. Vielmehr ermöglichen die Vogelsberger Trachten interessante Rückschlüsse auf längst vergessene Lebenswelten und so mancher darf sich die Frage stellen, wie bequem oder warm diese Trachten einst gewesen sein mögen. Gudrun Kneip bedankte sich für die Unterstützung und kündigte an, dass sie der Gemeinde Birstein weitere Trachten-Schätze überlassen möchte, die sie über die Jahre von zahlreichen Menschen erhalten hat und die schon mehrfach bei Ausstellungen gezeigt wurden. 

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