Eindrucksvolle Vorführung eines restaurierten Turmuhrwerks für den Geschichtsverein.
Jossgrund-Oberndorf (GVJ/mh). Wilhelm Schreiber, gelernter Schmied und langjähriger Hausmeister der Jossatalschule, hatte seit seiner Pensionierung den Wunsch, das alte mechanische Uhrwerk im Turm von St. Martin wieder „zum Leben zu erwecken“. Das alte Werk, das täglich aufgezogen werden musste, kannte er noch als Messdiener, und er erinnerte sich an das satte, beruhigende Ticktack, das er wieder hören wollte. Im Sommer 2014 kam Schreiber bei einer Musikprobe deswegen auf Ingenieur Matthias Bien zu, denn nach Umstellung auf elektrischen Antrieb 1968 war das mechanische Werk einfach im Turm verblieben.
Aus Unterlagen im Pfarrarchiv ging hervor, dass die Uhr im November 1904 von Georg Bayer aus Burgsinn in den neuen Turm eingebaut worden war. Das Werk hatte er für 750 Mark von der Fa. Hörz/Ulm bezogen, die als Referenz die Turmuhr im dortigen Münster vorweisen konnte. Bayer berechnete für drei Zifferblätter (⌀ je 2,4 m), Gewichte, Aufhängeschrank sowie Montage 650 Mark und gewährte für das richtige Gehen und Schlagen zehn Jahre Garantie. Die Pfarrgemeinde zahlte 1000 Mark sofort, den Rest in Raten. Der Gesamtpreis von 1400 Mark erscheint heute gering, allerdings betrug damals der Monatslohn eines Arbeiters etwa 60 Mark; die Baukosten für den ganzen Turm lagen bei 20.000 Mark.
Das Werk war in einem Glasschrank untergebracht und so konstruiert, dass jedes Bauteil leicht zugänglich und der ganze Mechanismus übersichtlich angeordnet war. Wellen und Triebe bestanden z. T. aus gehärtetem und poliertem Stahl. Ddie Zapfen liefen in Lagern aus Bronze. Die Seilwalzen hatten ein gedrehtes Gewinde, in das sich das Drahtseil einlegte. Am Uhrwerk war ein kleines Ziffernblatt angebracht, um den Stand der äußeren Zeiger ablesen zu können. Mittels einer in Minuten eingeteilten Scheibe ließen sich die Zeiger einstellen. Da die Uhr drei große Ziffernblätter sowie eine lange Zeigertransmission hatte, waren das Treiben der Zeiger und das Auslösen des Schlagwerkes einem besonderen Zeigertreibwerk übertragen, das jede Minute vom Gehwerk ausgelöst wurde. Dieses Gehwerk („konstante Kraft“) bildete einen Regulator für sich, wodurch laut Hersteller äußerste Genauigkeit garantiert war.
Bei der ersten Besichtigung im August 2014 stellten Schreiber und Bien fest, dass wesentliche Teile fehlten und die Funktion des Pendelantriebs daher rätselhaft blieb. Aufschluß ergab ein Internetvideo, das ein baugleiches, renoviertes Uhrwerk zeigte: Für die Kraftübertragung sorgte ein raffinierter Mechanismus mit einer Endloskette und einem eingehängten Zwischengewicht; die Kette musste eine spezifische Gliedgröße haben, damit sie zu den Kettenrädern passt. Da eine solche Größe nicht zu beschaffen war, wurden später die Glieder einer etwas größeren Kette einzeln manuell verkleinert.
Überdies war das Werk stark verschmutzt und die Fensterscheiben des Gehäuses eingeschlagen; allerlei Getier hatte seine Spuren hinterlassen. Drahtseile, die ehemals zu den Gewichten im Turm führten, lagen als rostiger Verhau herum; Reste von Fett und Kerzenwachs hingen an den Metallteilen. Im November 2014 zerlegten Schreiber und Bien das Uhrwerk und brachten die Einzelteile in einen leerstehenden Klassenraum der alten Schule. Nach Kontaktaufnahme mit einem Spezialisten wurden die Teile mit einer speziellen Waschlösung sowie einer Standbohrmaschine mit Rundbürstenaufsatz gereinigt, mit Eisenmennige grundiert und neu gestrichen, nahe am Originalfarbton.
Anfang 2015 begann der Zusammenbau und Mitte Januar lief das große Pendel wieder, mit provisorischen Antrieb. Ende Januar waren alle Teile wieder beisammen und der Nachbau fehlender Stücke begann. Nun wollten Schreiber und Bien auch die Schlagwerke für Viertel- und ganze Stunden wieder zum Laufen bringen. Dazu musste eine „Ersatzkonstruktion“ für den Turm gebaut werden, um Antriebsgewichte und „Ersatzglocken“ unterzubringen. Da die fertige Konstruktion mobil sein und durch gängige Türen passen sollte, bauten beide ein kleines Gerüst auf Balken. Als Gewichte wurden Hantelscheiben bestellt. Die Zimmerei Christ stellt das für einen neuen Schrank nötige Material kostenlos zur Verfügung.
Bei der Planung des neuen Gehäuses wurde das Original aus dem Kirchturm mitverwendet, gereinigt und alle Fensterscheiben samt Kitt erneuert. Nachdem das neue Gehäuse zugesägt, lackiert/gewachst und zusammengebaut war, konnte das Uhrwerk darin plaziert werden. Das Gehäuse beherbergt im grünen, „antiken“ Teil das Uhrwerk; hinter den weiß verkleideten Erweiterungen verbirgt sich die Mechanik, die früher im Kirchturm verbaut war. Die etwa 400 kg schwere Gesamtkonstruktion, deren Schwerlastrollen drei cm Bodenfreiheit gewähren, steht seit August 2015 im Foyer des Bürgerhauses. Da die Gewichte nun an kürzeren Drahtseilen mit im Schrank und nicht mehr über mehrere Stockwerke im Kirchturm hängen, sank die „Laufzeit“ der Uhr von 24 auf drei Stunden.
Die Zuhörer erlebten während dieser überaus kurzweiligen Stunde am „Tag des offenen Denkmals“ eine faszinierende Demonstration aller Funktionen: Währen des Vortrags lief das beruhigende Ticktack, der Zeiger sprang jede Minute weiter und alle Viertelstunde ertönte der Schlag. Durch den Einsatz von Bien und Schreiber konnte eine alte, seit über 100 Jahren in Jossgrund „beheimatete“ Einrichtung wiederbelebt, zugänglich gemacht und am Ort gehalten werden. Wie Matthias Bien erklärte, ging es beiden darum, selbst handwerklich tätig zu werden und die Funktionen eines älteren Stücks Technik verstehen zu lernen; es gebe kein einziges Teil an dieser Uhr, das – nach Dauerbetrieb und anschließender schlechter Lagerung – mehr als minimale Abnutzung zeige.